Das plattformübergreifende und quelloffene Genealogieprogramm Gramps gibt es schon seit fast zwanzig Jahren. Neu ist eine webbasierte Version des Programms. Mitentwickler David Straub berichtet über die Motivation für das Projekt und die Besonderheiten der App.
Dieser Artikel erschien zuerst in Heft 4/2022 der Zeitschrift COMPUTERGENEALOGIE.
In mühsamer Kleinarbeit hat man jahrelang Daten gesammelt, Bilder digitalisiert, Archive durchforstet und Quellen dokumentiert und beginnt sich zu fragen: Wie kann ich meine Familie und Verwandte an meinen Forschungsergebnissen teilhaben lassen? Wie können wir gemeinsam an der Dokumentation der Familiengeschichte arbeiten? Wie stelle ich sicher, dass dieser komplexe Datenschatz erhalten bleibt und nicht am Ende die halbe Arbeit umsonst war? Diese Fragen kennt wohl jeder Hobby-Genealoge und die Antworten sind vielfältig. Aus meiner eigenen Suche nach Antworten ist, in Zusammenarbeit mit weiteren ehrenamtlichen Softwareentwicklern, die App Gramps Web entstanden.
Im Nachlass meines Großvaters fand sich eine Kiste mit allerlei Notizzetteln zu seinen genealogischen Nachforschungen. Ohne Datierung und Quellenangaben war es aber oft schwierig, die Informationen zu interpretieren. Dabei fiel mir auf, dass meine eigene digitale „Kiste“ ebenso viele Schnipsel enthielt – Textdateien, Excel-Tabellen, noch nicht einsortierte Bilder – die für Außenstehende schwer zu interpretieren wären. Mir wurde klar, dass ich mein Genealogieprogramm nicht richtig benutzte. Anstatt das Programm nur als Ahnen-Datenbank zu verstehen, begann ich, es zur Abbildung aller meiner Nachforschungen und Forschungsergebnisse zu verwenden, nach dem Motto: Eine Datei, die nicht im Programm abgelegt ist, existiert auch nicht. Mit diesem Ansatz kam ich auch schon der Frage näher, wie der stetig wachsende Daten- und Wissensschatz erhalten bleiben kann: Wenn die gesamte Forschung im Genealogieprogramm abgelegt und verknüpft ist, ist ein Export der Daten und Medien die „verlustfreie“ Sicherung der gesammelten Arbeit. Da man es in der Familienforschung aber gewohnt ist, in längeren Zeitskalen als den Lebenszyklen von Softwareprogrammen zu denken, war es mir persönlich immer schon wichtig, quelloffene Software zu verwenden. Denn sie speichert Daten in standardisierten Formaten, die sich auch nach Jahrzehnten noch problemlos lesen lassen sollten. Das plattformunabhängige Gramps ist in dieser Hinsicht vorbildlich, da es alle Daten in etablierten, offenen Formaten speichert (SQLiteDatenbanken und XML-Dateien) und dabei den Programmcode, der diese Daten erzeugt und verändert, nicht versteckt, sondern mit seiner ganzen Entwicklungshistorie einsehbar macht.
Interaktive Kartenansicht
Nun war ich zwar mit der Speicherung und Organisation der Daten zufrieden, war aber der Frage noch nicht näher gekommen, wie ich meine Familie beteiligen kann. Klar, übers Internet – aber wie? Online-Stammbäume wie MyHeritage oder Ancestry waren für mich keine Optionen, da ich mich nicht an einen kommerziellen Anbieter binden mochte. Besser geeignet schien mir Webtrees, das beliebte Genealogiesystem für den Browser. Bei dem muss man sich aber entscheiden, ob man es nur zur Darstellung der Daten nutzt, die man in einem anderen Programm pflegt (was regelmäßigen GEDCOM-Ex- und Import nach sich zieht), oder ob man komplett auf Webtrees umsteigt. Beides wollte ich nicht.
Also entschloss ich mich, eine Idee aufzugreifen, die im Gramps-Projekt schon länger kursierte, aber noch nicht umgesetzt worden war: eine webbasierte Version. Dabei zahlt sich aus, dass Gramps schon vor Jahren konsequent aufgeteilt wurde: in eine plattform- und darstellungsunabhängige „Bibliothek“, die für die Verwaltung der Daten, genealogische Berechnungen, Import, Export und Berichterstellung verantwortlich ist, und einen anderen Teil, der sich um die Darstellung der Programmoberfläche kümmert. Damit war es möglich, mit überschaubarem Aufwand alle wesentlichen Funktionen übers Netzwerk verfügbar zu machen.
Komplett neu entwickelt werden musste indes die Weboberfläche, die völlig unabhängig vom Desktop-Programm ist. Sie wurde unter der Maxime „mobile first“ zur Mobil- und Desktopnutzung entwickelt. Auch wenn sich über Geschmack bekanntlich streiten lässt, so ist die Oberfläche der Web-App wohl die modernste der verfügbaren Online-Genealogieprogramme, insofern konsequent auf aktuelle Technologien gesetzt werden konnte.
Der modulare Aufbau stellt in der Web-App Funktionen wie GEDCOM-Export, Erstellung von grafischen oder textbasierten Berichten im PDF-Format, komplexe Verwandtschaftsberechnungen oder die Übersetzung der gesamten Benutzeroberfläche in mehr als 40 Sprachen zur Verfügung. Neben selbstverständlichen Funktionen, wie Listenansichten und Ahnentafeln, bietet die App auch eine Volltextsuche und eine interaktive Karte aller Orte in der Datenbank. Digitalisierte historische Stadtpläne, die als Mediendateien in der Datenbank abgelegt sind, lassen sich auf der interaktiven Karte verorten und anzeigen.
Blog-Ansicht
Eine weitere Besonderheit ist die Blog-Funktion. Mit ihr kann man Artikel mit Bildern oder anderen Medien veröffentlichen, spannende Geschichten erzählen oder Zusammenhänge erklären. Diese Blogartikel werden auch direkt in der Genealogiedatenbank als Quellen gespeichert, bleiben also auch erhalten, falls das Blog und die App irgendwann selbst Geschichte sind.
Die Daten lassen sich aber nicht nur betrachten, sondern mit einem abgestuften Berechtigungssystem kann man sie auch bearbeiten und neue Daten hinzufügen. Auf dem Smartphone lässt sich eine Mediendatei direkt mit der Kamera aufnehmen. Automatische Gesichtserkennung erlaubt eine schnelle und bequeme Markierung von Ahnen in alten Familienfotos. Alle Daten lassen sich nicht nur als XML oder GEDCOM exportieren, sondern auch mit einem speziellen Plug-in mit dem Gramps-Desktopprogramm synchronisieren. Damit wird eines der Hauptziele erreicht: das einfache Übertragen der vollständigen Forschungsergebnisse mitsamt aller Quellen zu jeder Zeit.
Mediendatei mit markierten Personen
Gramps Web ist keine klassische Genealogie-Webseite. Die Anzeige der Daten ist ohne vorherige Anmeldung grundsätzlich nicht vorgesehen, weil es heute schwierig ist, eine genealogische Sammlung mit Quellen und Medien datenschutzkonform zu veröffentlichen. Die App ist dazu gedacht, möglichst viele Daten mit einem begrenzten Kreis an Nutzern – insbesondere der eigenen Familie und Verwandten – zu teilen. Dabei lassen sich Nutzer verschiedenen Berechtigungsgruppen zuteilen: Bearbeitungsrechte oder nur Betrachtungsrechte, Einsicht aller Daten oder nur von Daten, die nicht als „privat“ markiert sind. So lässt sich auch einfach erreichen, dass Daten lebender Personen für niemanden oder nur für einige einsehbar sind.
Gramps Web ist ein neues Werkzeug, um übers Internet mit Verwandten an der gemeinsamen Familiengeschichte zu arbeiten oder um unterwegs eine mobile Version des Genealogieprogramms in der Hosentasche zu haben. Dabei liegt der Schwerpunkt auf vollständiger Verfügbarkeit der genealogischen Forschungsergebnisse in offenen Formaten bei gleichzeitiger Beachtung von Datenschutz und Privatsphäre. Damit möchte das Projekt auch einen Beitrag zur Frage des digitalen genealogischen Nachlasses leisten.